Drei Ziffern für den Notfall

20.09.2023
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In der EU werden 24 Sprachen gesprochen. Hilfe ruft man aber überall mit einer Telefonnummer: 112. In Deutschland gibt es diese Notrufnummer seit 50 Jahren.

Herzinfarkt, schwerer Unfall oder Waldbrand: In ganz Deutschland können sich die Menschen rund um die Uhr darauf verlassen, dass jemand den Hörer abnimmt, wenn die Notfallnummern 110 und 112 gewählt werden. Am 20. September 1973 beschließen die westdeutschen Regierungschefs von Bund und Ländern, die Notfallnummern flächendeckend einzuführen.

Eine zentrale und gebührenfreie Notrufnummer ist seinerzeit keine Selbstverständlichkeit: Anfang der 1970er-Jahre ist die Polizei nur in rund 1.000 von 3.785 Fernsprechortsnetzen unter der 110 zu erreichen. Das geht aus einem Bericht der Bundesregierung wenige Monate vor Einführung der Rufnummern hervor. Bis in die 1970er-Jahre mussten Notfallpatienten, Schwerverletzte oder Unfallopfer lange auf ihre Behandlung oder Bergung warten. Notrufnummern gab es nur in Großstädten. Wer in Kleinstädten oder auf dem Land in Not geriet, musste im Telefonbuch nach einer Polizeistelle oder dem nächsten Krankenhaus suchen.

Dreistellige Nummern sind damals aus technischen Gründen die kürzesten, die bundeseinheitlich zur Verfügung stehen. Außerdem hat die 110 den Vorteil, dass sie sich an den damals verbreiteten Telefonen auch im Dunkeln leicht wählen lässt: Die Ziffern 1 und 0 befinden sich auf der Wählscheibe an den jeweiligen Enden der Skala.

 

Ein Achtjähriger gibt Anstoß für einheitliche Nummern

Grundsätzlich existiert die 110 für die Polizei schon seit 1948, wie die Bundesnetzagentur angibt. Als die 110 für Polizei und 112 für Feuerwehr ausgewählt werden, wird demnach die Ziffernfolge 111 außen vor gelassen, um offenbar technische Probleme zu vermeiden.

In der DDR ist ab etwa Mitte der 1970er-Jahre neben der 110 und 112 über die 115 der zentral gesteuerte Rettungsdienst zu erreichen. Nach der Wende wird die Schnelle Medizinische Hilfe aufgelöst. Heute können Bürger unter der 115 Fragen zu Behördenanliegen loswerden. Bis in West-Deutschland die 110 und 112 nach dem Beschluss von 1973 tatsächlich überall verfügbar sind, dauert es noch einige Jahre. Nach Angaben der Björn-Steiger-Stiftung, die sich maßgeblich für die einheitlichen Notrufnummern einsetzte, wird das letzte Ortsnetz Ende 1979 damit ausgestattet.

Zu verdanken war die Einführung von einheitlichen Notrufnummern vor allem der Hartnäckigkeit – oder auch Starrköpfigkeit – des Architekten-Ehepaars Ute und Siegfried Steiger aus dem schwäbischen Winnenden. Der Unfalltod ihres Sohnes Björn 1969 ließ ihnen keine Ruhe: Der Achtjährige wurde auf dem Heimweg vom Schwimmbad von einem Auto angefahren. Der Krankenwagen brauchte fast eine Stunde – zu spät für den Jungen. Er starb auf dem Weg in die Klinik an einem Schock.

„Unser Sohn hätte vielleicht gerettet werden können, doch 1969 gab es in Deutschland noch keinen funktionierenden Rettungsdienst“, schrieben die Eltern im Rückblick. Noch im selben Jahr gründeten sie die Björn-Steiger-Stiftung und wurden damit zum Motor für ein besseres Rettungswesen mit einheitlichen Notrufnummern.

Ein zäher Kampf war nötig: Dem Ehepaar Steiger gelang es zunächst, die Notrufnummer in Nordwürttemberg in den Ortsnetzen der Post einzuführen. Zu teuer, zu kompliziert, hieß es dann aber mit Blick auf eine bundesweite Einführung. Siegfried Steiger musste erst das Land Baden-Württemberg und die Bundesrepublik verklagen, ehe sich die Politik bewegte.

 

Seit 1991 gilt die 112 in allen EU-Ländern

Zwar wurde die Klage abgewiesen, doch brachte die öffentliche Aufmerksamkeit den Durchbruch. Im September 1973 klingelte bei den Steigers das Telefon. Am Apparat war Bundespostminister Horst Ehmke (SPD). „Gerade haben wir die Einführung der Notrufnummern 110 und 112 beschlossen“, sagt er. „Ihr Dickschädel hat sich durchgesetzt.“ 1991 entschied auch der EU-Ministerrat, dass – auch in Ergänzung zu den nationalen Notrufnummern – die 112 in allen EU-Ländern eingeführt wurde. Seit 2003 müssen die Telekommunikationsbetreiber den Rettungsdiensten auch Informationen zum Standort des Anrufers übermitteln, um ein rasches Auffinden zu ermöglichen. Seit 2009 hilft die 112 europaweit kostenfrei auch aus dem Mobilfunknetz.

Wie oft die Notrufnummern genutzt werden, darüber gibt es wegen der kleinräumigen Zuständigkeiten nur Schätzungen: Von bundesweit rund 16,9 Millionen Anrufen im Jahr 2021 geht die Stiftung aus. Ein Forschungsprojekt der Bundesanstalt für Straßenwesen für die Jahre 2016 und 2017 zeigt: rund 41.000 Anrufe gehen an einem durchschnittlichen Werktag bei Notrufzentralen in Deutschland ein. Am Wochenende seien es etwa 10.000 Anrufe weniger.

Demnach stuft das Leitstellenpersonal 52,5 Prozent des Einsatzaufkommens als Notfälle ein, der Rest entfällt in die Kategorie Krankentransport.

Problematisch sei, dass zu viele Menschen den Notruf auch in weniger gravierenden Situationen riefen, wie etwa bei Kopfschmerzen, sagt Pierre-Enric Steiger, Präsident der Björn Steiger Stiftung. „Das ist absolut kein Einsatzszenario für den Notarzt“, betont er. Früher hätte die Bevölkerung eine hohe Hemmschwelle bei Notrufen gehabt, doch seit ungefähr 15 Jahren gebe es das umgekehrte Phänomen.

Wenn nicht gerade Lebensgefahr besteht und alle Arztpraxen geschlossen sind, sollten Betroffene dem Gesundheitsministerium zufolge statt der 112 den ärztlichen Bereitschaftsdienst unter 116117 anrufen. Bei Bedarf kommen dann die Ärzte, die unter dieser Nummer erreicht werden, auch zu Betroffenen nach Hause.